Zunächst empfehle ich wärmstens, sich obiges Video anzuschauen, bevor Du diesen Artikel liest (für ganz Eilige gibt es hier eine Short-Version). Darin stellt der “Bildungsevoluzzer”, Zauberkünstler und Gedächtnistrainer Ricardo Leppe eine Fingerrechenmethode vor, um Multiplikationsaufgaben zweier Zahlen in der zweiten Zehnerhälfte zu lösen, also um das Produkt zweier Zahlen aus der Menge {6, 7, 8, 9} zu bestimmen.
Die Methode
Der Vollständigkeit halber hier eine schriftliche Zusammenfassung: wir schauen auf die Handinnenseiten beider Hände, und beschriften die kleinen Finger mit einer 6, die beiden Ringfinger mit einer 7, die beiden Mittelfinger mit einer 8, und die beiden Zeigefinger mit einer 9. Zu einer gegebenen Multiplikationsaufgabe mit zwei Faktoren x und y führen wir den linken Finger mit der Beschriftung x und den rechten Finger mit der Beschriftung y zusammen. Jetzt zählen wir zu den beiden zusammengeführten Fingern die Finger, die sich darunter befinden. Diese Zahl wird mit 10 multipliziert und gemerkt. Als nächstes schauen wir auf die Finger oberhalb der zusammengeführten Finger, und multiplizieren die Zahl der linken oberen Finger (inklusive Daumen) mit der Zahl der rechten oberen Finger (inklusive Daumen). Dieses Produkt addieren wir zur gemerkten Zahl aus dem ersten Schritt und erhalten so das gesuchte Produkt.
Beispiel aus dem Video: wir möchten das Produkt aus 7 und 8 bestimmen. Wir nehmen also den linken Ringfinger und führen ihn zusammen mit dem rechten Mittelfinger. Unterhalb der zusammengeführten Finger sind 3 Finger, zusammen mit dem Paar sind das 5, also merken wir uns 50. Oberhalb haben wir links 3 und rechts 2 Finger, 3 mal 2 sind 6 und als Ergebnis erhalten wir 56. Das ist korrekt.
Stimmt die Methode überhaupt?
Was in Ricardo Leppes mathematischen Videos leider komplett untergeht, sind Fragen danach, warum all die wunderbaren Tricks eigentlich funktionieren. Der hier diskutierte Trick gehört (offenbar) zur Sammlung der sogenannten Vedischen Mathematik.
Aber was heißt eigentlich funktionieren? Für einen Mathematiker stellt sich die Frage danach, ob die Methode stets zum richtigen Ziel führt, und ob es Einschränkungen z.B. in der Wahl der Zahlen gibt, ob aber, wenn man sich an die Einschränkungen hält, dann die Methode stets zum richtigen Ziel führt. Die Beantwortung dieser Fragen hat erheblichen Mehrwert.
Die Methode ersetzt vielfältiges Wissen, etwa die auswendig gelernte Multiplikationstafel (oder Teile davon), durch eine einfache Vorgehensweise, die das auswendig gelernte Wissen ersetzt. Aber eben nur dann, wenn sie überhaupt gilt. Müsste man sich zig Einzelfälle merken, wann sie gilt und wann nicht, könnte man gleich einfach die Tabelle auswendig lernen. Nur ihre uneingeschränkte (im gegebenen Rahmen) Korrektheit verleiht ihr einen Nutzen.
Aus der Kenntnis einer Begründung (Mathematiker nennen das einen Beweis, aber die meisten Nicht-Mathematiker sehen bei der Erwähnung des Wortes “Beweis” zu, dass sie Land gewinnen) ließen sich vielleicht Dinge lernen, die zur eleganten Lösung anderer Multiplikationsaufgaben hilfreich sind.
Aus der Kenntnis eines Beweises (halt, hier geblieben!) lassen sich vielleicht Zusammenhänge erkennen, die für Objekte gelten, die keine Zahlen sind, aber gewisse Eigenschaften mit ihnen gemein haben. Wir Mathematiker nennen das Abstraktion oder Verallgemeinerung.
Man muss einen Beweis nicht suchen oder führen, um ihn dann für anderes zu verwenden oder ihn zu verallgemeinern. Man kann Aussagen auch einfach aus Spaß an der Freude beweisen, sich dann im Erfolgsfall zufrieden zurücklehnen und im Anschluss Fußball spielen gehen… oder einen Blogartikel schreiben.
Der Beweis
Angesichts der Tatsache, dass der von Ricardo Leppe vorgeführte Rechentrick “nur” Rechnen mit Fingern ist, mute ich heute meiner vermutlich überwiegend nicht-mathematischen Leserschaft einen Beweis zu. Wenn ich ein solches Video sehe, verspüre ich sofort einen Impuls, mich von der Korrektheit selbst zu überzeugen. Schlimmer noch, mich interessiert ihre Anwendung auf konkrete Rechenaufgaben überhaupt nicht: für konkrete Rechenaufgaben habe ich das Zehner-Einmaleins längst auswendig gelernt, und im Zweifel nehme ich (wir schreiben das 21. Jahrhundert!) einen Taschenrechner oder einen Computer! Für mich ist also Leppes Rechentrick-Video ausschließlich ein Impuls, mich mit dem Beweis des Tricks auseinanderzusetzen.
Ohne zu technisch werden zu wollen, was können wir beweisen? Es sind Aussagen, etwa von der Art “diese Formel ergibt stets das gleiche wie jene Formel”. In unserem Fall haben wir keine Aussage explizit vorliegen, die Übersetzung des Rechentricks in eine mathematische Aussage ist von uns zu leisten, und beinhaltet schon fast den halben Beweis.
Ricardo Leppe modelliert die Zahlen zwischen 6 und 9 mit den Fingern, und nimmt den 1. Finger für die 6, den 2. für die 7, den 3. für die 8, und den vierten für die 9. Was fällt auf? Alle Zahlen sind im Fingermodell um 5 verschoben, jeweils bei beiden Faktoren x und y. Wir haben also
für jeweils eindeutige k und m. Die Methode/Behauptung lautet also:
Warum ist das die Formalisierung des Rechentricks? Nun, wir haben die Zahl der “unteren” Finger addiert (k+m) (links k, rechts m), das Ergebnis mit 10 multipliziert und gemerkt. Dann haben wir die linken oberen Finger (5-k) mit der Zahl der rechten oberen Finger (5-m) multipliziert und zur gemerkten Zahl dazuaddiert.
Jetzt wollen wir die Behauptung beweisen. Wir haben einerseits
nach dem Distributivgesetz, und andererseits
Also sind beide Ausdrücke, sowohl
als auch
gleich
und damit gleich zueinander. Quod erat demonstrandum, “was zu beweisen war”, wie der Mathematiker sagt.
Und nun?
Für jemanden mit einer mathematischen Veranlagung war der Beweis nur der Auftakt, jetzt fängt es erst richtig an. Denn jetzt könnten wir eine ganze Reihe von weiteren Fragen stellen.
Was haben wir von dem Rechentrick?
Neben der Fähigkeit, konkrete Aufgaben lösen zu können, stellt sich die Frage nach einem “allgemeineren (Erkenntnis-)Wert” des Tricks. Hier gibt es mindestens zwei Perspektiven:
Wir haben die Multiplikation zweier etwas größerer Zahlen (zwischen 6 und 9) zurückgeführt auf die Multiplikation zweier kleinerer Zahlen (5-k und 5-m liegen zwischen 1 und 4), die Multiplikation mit 10 und Addition. Wir haben also ein schwierigeres Problem in mehrere leichtere Probleme zerschlagen und damit die Komplexität reduziert!
Die umgekehrte Perspektive: angenommen, wir konnten vorher nur das Mini-Einmaleins bis zur 4, die Zehnerreihe und addieren, dann versetzt uns der Trick auf Grundlage dieser Fähigkeiten in die Lage, neue Probleme zu lösen. Ein intellektueller Hüftaufschwung!
Können wir den Trick übertragen?
Wie sieht es zum Beispiel aus, wenn wir an jeder Hand 10 Finger hätten, und Multiplikationsaufgaben des großen Einmaleins (beide Faktoren zwischen 11 und 19) lösen wollten. Können wir dasselbe Schema anwenden? Wir würden also die linken Finger mit 11, 12, usw. nummerieren, die rechte Zehner-Hand genauso, die zu multiplizierenden Finger sich berühren lassen, die unteren zählen, die oberen zählen, und dann was tun? Wir würden die unteren Finger mit 20 multiplizieren und uns das Ergebnis merken, und dazu das Produkt der linken und rechten oberen Finger addieren. Den Beweis überlasse ich der geneigten Leserschaft als Hausaufgabe! ;-P
Der Wert des Tricks würde diesmal darin bestehen, mithilfe des kleinen Einmaleins (bis 10), der 20er-Reihe (d.h. das doppelte der 10er-Reihe) und Addition Aufgaben aus dem “unteren rechten Viertel” des großen Einmaleins zu lösen. Nicht schlecht. Ich für meinen Teil habe, ich bekenne, das große Einmaleins nie auswendig gelernt.
Können wir den Trick mehrmals anwenden?
Und was hindert uns eigentlich daran, den gleichen Trick noch einmal anzuwenden, also Rechenaufgaben oberhalb der 20er auf Aufgaben unterhalb der 20er zu reduzieren, die wir dann gegebenenfalls auf Aufgaben unterhalb der 10, und die gegebenenfalls auf Aufgaben unterhalb der 5 reduzieren? Richtig, nichts! Wir können also einen intellektuellen Hüftaufschwung nach dem anderen machen, “bis ins Aschgraue”, wie es Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch “Der Zahlenteufel” (absolute Leseempfehlung!) genannt hat.
Zugegeben, die Sache hat einen Hacken: der ursprüngliche Trick geht mit normalen Händen praktisch nur, wenn beide Faktoren über 5 liegen. Dann können wir uns auf die das klitzekleine Einmaleins zurückziehen. Wir müssten uns bei der vielfachen Anwendung des Schemas überlegen, was passiert, wenn einer der Faktoren oberhalb und der andere unterhalb der Schwelle (im Original 5) liegt. Aber, wir wollen uns die Laune nicht verderben lassen.
Können wir den Trick verallgemeinern?
Wir könnten uns zum Beispiel bereit erklären, ein bisschen mehr als nur das Mini-Einmaleins zu lernen, statt bis zur 4 also vielleicht bis zur 6. Wie viele Finger bräuchten wir dann an jeder Hand, um wieder mit unteren und oberen Fingern nach dem obigen Schema rechnen zu können?
Grenzen austesten
Die Formel, die wir oben bewiesen haben, hat nirgendwo verwendet, dass die ursprünglichen Zahlen zwischen 6 und 9 liegen müssen. Was passiert also, wenn wir die Regel außerhalb des beabsichtigen Nutzungsrahmens anwenden?
Angenommen, wir möchten 5 mal 8 mit der obigen Methode berechnen. Links benutzen wir also den vorgestellten Finger unter dem kleinen Finger, und rechts den Mittelfinger. “Untere” Finger haben wir links keinen und rechts drei, zusammen 3, das macht 3x10=30, und “obere” Finger haben wir links fünf und rechts zwei, das macht 5x2=10, in Summe also 40. Auch hier ergeht die Einladung, andere Beispiele außerhalb des beabsichtigten Nutzungsrahmens auszuprobieren: welche nicht vorhandenen Finger sind dann wie zu zählen? Ich wünsche viel Vergnügen!
Fazit
Ich möchte es für heute dabei belassen, und die Geduld meiner nicht-mathematischen Leser nicht überstrapazieren. Ich hoffe, ich konnte exemplarisch einen Ausschnitt dessen zeigen, wie Mathematiker so “ticken”: die Frage nach Begründungen und Beweisen, also nach dem Warum, als starker Antrieb und als Richtung für die Neugier; der Wunsch, Erkenntnisse zu übertragen oder zu verallgemeinern; der Versuch, komplexe Probleme in einfachere, bereits gelöste Probleme zu zerlegen und sie so zu lösen; die wiederholte Anwendung eines Schemas; das Interesse daran, Grenzen der Gültigkeit von Regeln und Gesetzen auszuloten; und die Freude an der intellektuellen Erkenntnis, aber natürlich auch an ihrer Anwendbarkeit in der Praxis.
Hast Du dem Beweis folgen können? Hat es Dich neugierig aufs Begründen gemacht? Wie war das Bauchgefühl beim Lesen, vor allem im Vergleich zu Deinem üblichen “Mathe-Bauchgefühl”?
Verrate es mir gerne in den Kommentaren. Ich freue mich auf Feedback und Inspiration von meinen Lesern.