Was ist mit der Jugend los?
Kommentar zu einem Interview von Michael Meyen mit Matthias Burchardt
Kürzlich bin ich auf obiges Interview gestoßen, welches der Medienforscher und Journalist Michael Meyen bereits im Juni 2023 mit dem Philosophen und Bildungsforscher Matthias Burchardt geführt hat. Der Titel meines Kommentars lautet wie der des Interviews: “Was ist mit der Jugend los?”. In dem Gespräch geht es unter anderem um Burchardts Menschenbild, die Maßstäbe an Bildung, die er davon ableitet, und die Veränderungen im deutschen Schulwesen in den letzten Jahrzehnten.
Zu diesen Veränderungen zählen, um nur einige zu nennen, die sogenannte “Kompetenzorientierung”, die “Vermessung der Bildung”/Evaluationswahn, eine massive Erhöhung der Abiturienten- und Studienquote (also des Anteils eines Jahrgangs, die mit Abitur abschließen bzw. an einer Universität studieren), eine gleichzeitige Absenkung der Ausbildungs- und Studierfähigkeit der Schulabgänger und vieles mehr. Burchardt stellt fest, dass diese Veränderungen wesentlich von nicht-staatlichen, insbesondere nicht demokratisch legitimierten Akteuren wie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung vorangetrieben wurden. Er hat zu diesen Fragen spezifisch geforscht, seine Kritik ist fundiert, und er trägt diese Kritik immer wieder auch in die Öffentlichkeit, also “aus dem Elfenbeinturm” heraus.
Übergang Schule-Hochschule vom Standpunkt der Mathematik
Ich persönlich teile seine Kritik und stimme praktisch allen angesprochenen Beobachtungen und Befunden zu. Im Fachbereich Mathematik gibt es seit vielen Jahren (siehe etwa die Pressemitteilung unten aus dem Jahr 2011) teils heftige Diskussionen über die Gestaltung des Übergangs von Schulen zur Hochschule, was sowohl den Mathematik-Unterricht vor und die mathematische Hochschullehre nach dem Übergang betrifft. Diskussionen entbrannten eben wegen der Beobachtung, dass sich der durchschnittliche mathematische Kenntnis- und Fähigkeitsstand von Studienanfängern seit vielen Jahren im forcierten Absturz befindet. Diese Diskussionen sind teilweise aus den Fachkreisen sogar in die Öffentlichkeit geschwappt, beispielsweise, als mathematische Fachgesellschaften mit pädagogischen Fachgesellschaften über Brandbriefe kommunizierten.
Im Kern ging und geht es auch um die Schuldfrage, warum sich für viele Studienanfänger der Übergang als so/zu schwierig erweist. Je nach Perspektive machen dann Lehrer schlechten Unterricht, oder sind Hochschullehrer unfähig, ihre Hochschullehre an neue Gegebenheiten bei ihren Studenten anzupassen, etwa, dass die Abiturienten im Gegensatz zu früher heute mit programmierbaren Taschenrechnern und geometrischer Software umgehen können, dafür aber leider keine formale Definitionen und Konzepte kennen und nicht beweisen und argumentieren können.
Dazu hat 2019 die ober erwähnte Mathematik-Kommission “19 Maßnahmen für einen konstruktiven Übergang Schule – Hochschule” vorgelegt, nur um 2022 noch einmal zu fordern: “Lehrkräftebildung in Mathematik muss besser werden!” Wer die Vorschläge liest, stellt fest, dass man in der Mathematik-Kommission keinen blassen Schimmer hat, was man tun könnte. Hilflos wird pauschal gefordert, Lehreramtsausbildung zu verbessern, mehr Fort- und Weiterbildung anzubieten, und sich unter den Hochschulen abzusprechen, ganz so, als ob man vorher noch nie Mathematik-Lehrer ausgebildet hätte.1
Burchardts Thesen zur Schulbildung
Nun ist zwar Mathematik nicht die Fachdisziplin des Philologen und Philosophen Matthias Burchardt, der macht dennoch einige grundsätzliche Vorschläge zur Verbesserung von Bildung bzw. Schulunterricht, die natürlich auch den Mathematik-Unterricht betreffen. Spannenderweise liegen unsere Menschenbilder sehr nah beieinander, zumindest bei den Dingen, die von ihm ausgesprochen werden: der Mensch als soziales Wesen, der in eine Gemeinschaft eingebettet sich bildet, statt nur allein im Wettkampf mit den anderen Konkurrenten seine “Bildung” voranzutreiben und seinen “Marktwert” hochzutreiben. Bildung also nicht als Verwertungsmasse auf dem Arbeitsmarkt, sondern als Entfaltung des in Gemeinschaft eingebundenen Menschen. Burchardt betont als Ziel von Bildung die Fähigkeit, seine Lebensumstände zu beeinflussen (in der Selbstbestimmten Bildung spricht man auch von Ermächtigung/empowerment), und lehnt eine gesellschaftliche Rangfolge nach Schulabschlüssen ab. Er träumt davon, dass sich eines Tages eine solche Abstufung auch nicht mehr an Löhnen und Gehältern ablesen lässt: vor allem Menschen in praktischen und sozialen Berufen würde es wahrlich freuen.
Burchardt befürwortet Klassenunterricht, der in der Öffentlichkeit typischerweise als “Frontalunterricht” bezeichnet und seiner Meinung nach zu Unrecht diffamiert werde, als höchste Form des Unterrichts, eben weil er die gesamte Klasse einbinde und idealerweise sich so die Leidenschaft und Fachkompetenz des Lehrers auf alle Schüler übertrage. Unter der Prämisse, dass die Schule ihrem Bildungsauftrag nachkomme, befürwortet Burchardt eine Schulpflicht. Da dies aktuell nicht der Fall sei, verstehe er Familien, die alternative Bildungswege beschreiten, kritisiert jedoch sogenannte progressive Bildungswege (z.B. Waldorf- und Montessori-Schulen), da damit einhergehende Probleme bereits vor vielen Jahrzehnten erkannt worden seien, und andere Bildungswege (vermutlich “selbstbestimmte Bildung”), die die “Kinder überhöhen” und ihnen zu viel Verantwortung aufbürden würden. Bei letzterem sieht er eine Korrespondenz zum neoliberalen Ideal der erbarmungslosen Selbstoptimierung bezüglich ökonomischer Verwertbarkeit der eigenen “Bildung” und der Selbstvermarktung auf dem Arbeitsmarkt (der Mensch als ökonomische Ressource).
Hier wird es für mich spannend: woher nehmen wir, dass Schulen je einen Bildungsauftrag hatten, und nicht zu allen Zeiten ein Herrschaftsinstrument waren, um Menschen vom gewünschten, weil leicht kontrollierbaren Typus für die Herrschenden zu formen (Soldaten und Kirchgänger, Fabrikarbeiter für stupide Fließbandarbeit, etc.)? Für vergangene Gesellschaftssysteme ist das vermutlich sogar jedem sofort einsichtig, für unser aktuelles System ist der Befund nach Überzeugung von Prof. Gerald Hüther (dem ich mich anschließe) nicht besser: gewünscht werden passive Konsumenten, und das ist dann auch das, was bei der Schule herauskommt. Und damit wir uns nicht missverstehen: dies ist keine verächtliche Beleidigung junger Menschen, sondern emphatische Anteilnahme! Der Mensch wird nicht zum Menschen, er entfaltet nicht sein Potential, er befriedigt nicht seine Grundbedürfnisse, wenn er nur Befehlen, Anreizen und Angeboten folgt! Es braucht schon deutlich mehr.
Sind Kinder auch Menschen?
Bei aller Übereinstimmung im Menschenbild, welches Matthias Burchardt und ich hegen, so gibt es doch einen großen, unausgesprochenen Unterschied, den ich hier aus Anlass von Burchardts Interview, nicht gegen ihn persönlich gerichtet, ans Licht bringen möchte. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass Burchardt hier widersprechen würde, sondern dass dieser Aspekt schlicht nicht bedacht wird, quasi ein blinder Fleck, und das schon bei einem so kritisch und selbstständig denkenden Menschen. Die Tatsache jedoch, dass dieser Aspekt nicht bedacht, nicht benannt und nicht berücksichtigt wird, hat weitreichende Konsequenzen!
Ich bin nämlich der Überzeugung, dass junge Menschen vollwertige Menschen sind, und dass ihnen (mindestens) der gesamte Satz an Grund- und Menschenrechten zusteht.
So, das musste raus. Ja, ja, und nochmals ja, junge Menschen sind auch Menschen!
Was in Burchardts Thesen und Ausführungen (wohlgemerkt stellvertretend für vermutlich die überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft, hier und weltweit) sympathisch und sehr gebildet zum Ausdruck kommt, ist, was Bertrand Stern spitz die Beschulungsideologie nennt. Die Vorstellung also, junge Menschen wären, allein wegen ihres Alters und nicht wegen irgendwelcher individuellen Merkmale oder charakterlichen Eigenschaften, eben nicht vollwertige Menschen, “sie müssten erst zu Menschen (gemacht!) werden”, natürlich unter der Anleitung wohlmeinender erwachsener Menschen. Aufmerksame Leser werden hier eine gruppenbezogene Diskriminierung erkennen, und tatsächlich gibt es dafür einen etablierten Begriff: Adultismus.
Bei der Beschulungsideologie werden in meinen Augen zwei unterschiedlich Dinge miteinander vermischt. Auf der einen Seite haben wir unbestritten die Tatsache, dass junge Menschen einen großen Bedarf an Unterstützung haben: altersabhängig etwa aufgrund von kognitiver Unreife, geringerer Muskelkraft oder geringerer Körpergröße. Aus dieser Unterstützungsbedürftigkeit wird dann regelmäßig unausgesprochen und ohne groß Aufhebens zu machen geschlussfolgert, junge Menschen zu Objekten von Unterstützungsmaßnahmen machen zu dürfen. Dabei sind wir an vielen anderen Stellen in unserer Gesellschaft schon sehr viel weiter (und an vielen weiteren Stellen leider auch wieder nicht).
Erstes Beispiel: ich bin größer gewachsen als meine Frau. Sie hat also Schwierigkeiten, an Gegenstände, die weit oben in unseren Küchenschränken verstaut sind, zu kommen, und damit spezifischen Unterstützungsbedarf. Ich helfe gerne, käme aber deshalb niemals auf die Idee, sie als minderbemittelt zu behandeln und ihr Menschenrechte abzusprechen.
Zweites Beispiel: die sehende Begleitung von blinden und sehbehinderten Menschen. Jene haben offenkundig in manchen Situationen Unterstützungsbedarf, aber wir sind uns als Gesellschaft einig, dass diese Unterstützung respekt- und würdevoll zu leisten ist. Dazu ein Zitat aus dem Leitfaden zur Begleitung von blinden und sehbehinderten Menschen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands e.V.:
In jedem Fall ist es sehr wichtig, dass die Unterstützung durch eine sehende Begleitperson ausschließlich da ansetzt, wo sie wirklich erforderlich ist, und auch nur im nötigen Umfang. Sie soll im respektvollen Einklang mit der Persönlichkeit des blinden oder sehbehinderten Menschen stehen. Seine Selbstständigkeit soll gefördert und unterstützt werden.
Wenn auch in bester Absicht, endet die Hilfe manchmal leider darin, dass sehbehinderte oder blinde Menschen hingebracht, hingestellt, hingesetzt, gezogen oder geschoben werden. Aber es ist für die Betroffenen sehr wichtig, ihren Alltag aktiv zu erleben und zu gestalten.
Ich lade dazu ein, in obigem Zitat Verweise auf die Grundbedürfnisse Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit zu suchen.
Die Beispiele sollen zeigen, dass jeder Mensch situationsbedingt Unterstützungsbedarf haben kann, egal, ob wir dafür einen Namen haben oder nicht, aber ich hoffe, wir sind uns alle einig, dass uns in solchen Fällen nicht das Recht zukommt, jenen Menschen in diesen Situationen ihre Rechte abzusprechen und sie zu Empfängern unserer Wohltaten zu degradieren. Die Menschenwürde von Blinden, von meiner Frau und von jungen Menschen ist nun mal unantastbar, denn:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
(Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte)
Junge Menschen sind hier nicht ausgenommen, auch sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt, und mit Würde und Rechten geboren. In puncto Rechte können junge Menschen also gar nicht genug “überhöht” werden. Sie sollten gleichbeRECHTigt neben allen anderen Menschen stehen.
Schulgebäudeanwesenheitspflicht
Die größte Menschen- und Kinderrechtsverletzung im Zusammenhang mit Bildung ist natürlich die Pflicht, werktags (abgesehen von gnädig zugestandenen Wochenenden und Ferien) sich in einem vorgeschriebenen Gebäude aufhalten zu müssen, also die Schulgebäudeanwesenheitspflicht. Wäre die erst mal abgeschafft, könnten wir in Ruhe darüber diskutieren, ob an den dann freiwillig zu besuchenden Schulen besser Klassen-/Frontalunterricht oder Gruppenarbeit gemacht werden sollte, wie viel Gelegenheit zu sportlicher, künstlerischer oder zu (arbeits-)praktischer Betätigung geboten werden sollte, und was da noch so alles an ganz wichtigen pädagogischen Fragen zu klären ist.
So wünscht sich Burchardt etwa mehr Fachlichkeit im Unterricht, sprich mehr Fokus auf eigentliche Fachinhalte und weniger Gedöns2. Mich würde nicht wundern, wenn sich das relativ leicht realisieren ließe, wenn junge Menschen “Unterricht” (wir würden dafür ganz sicher einen anderen Namen finden wollen) freiwillig, selbstbestimmt und aus eigenem Interesse besuchen.
Zum Abschluss möchte ich noch kurz Burchardts Kritik erwidern, dass (mutmaßlich) in Kreisen der Selbstbestimmten Bildung junge Menschen mit der alleinigen Verantwortung überfrachtet werden, für ihre eigene Bildung in einem von Wettbewerb geprägten Umfeld zu sorgen, sich also eigenverantwortlich “fit für die Zukunft” zu machen. Mein Verständnis von Selbstbestimmter Bildung (ich habe einige meiner Inspirationsquellen mehrfach zitiert) ist dabei ein ganz anderes: alle Menschen möchten ihre Grundbedürfnisse befriedigen, und frei sich zu bilden gehört dazu, ganz besonders bei jungen Menschen. Dabei haben alle Menschen in unterschiedlichem Maße Unterstützungsbedarf, und es ist Ausdruck unserer Verbundenheit, sie dabei — ihr Einverständnis vorausgesetzt — respektvoll zu unterstützen. Ob junge Menschen dann ihre Bildungsbemühungen an ökonomischer Verwertbarkeit ausrichten (am Außen) oder vorrangig an intrinsischen Impulsen (am Inneren), oder eine Mischung daraus, bleibt ihnen dann wie bei jedem Erwachsenen überlassen.
Der Eindruck der Rat- und Hilflosigkeit kann auch daher rühren, dass die Beteiligten nicht sagen können, was sie eigentlich sagen wollen.
Wirklich nur für Hartgesottene: Kernlehrplan für die Sekundarstufe II, Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Mathematik, Seite 10, Abschnitt “Aufgaben und Ziele des Faches”.
Ganz großartige Fragen, die Du hier aufmachst. Tolle Arbeit, Daniel! Regestackt.